Sonntag, 14. Dezember 2014

Zwischen Magie und Heilkunde – Mittelalterliche Zauber- und Segenssprüche

Contra vermes.
Gang ût, nesso, mid nigun nessiklînon,
ût fana themo marge an that ben, fan themo bene an that flesg,
ût fan themo flesge an thia hud, ût fan thera hud an thesa strala.
drohtin, uuerthe so!

Übersetzung

Während dieser Spruch sowohl sprachlich, als auch inhaltlich für uns heute sehr fremd und befremdlich erscheint, war dieser für die Menschen im Mittelalter alltäglich und unglaublich nützlich. Es handelt sich hierbei nämlich um einen altsächsischen Zauberspruch des 9. Jahrhunderts, der einen an Schwindsucht leidenden Menschen heilen sollte. Der Erreger dieser Krankheit, so glaubte man, sei ein Wurm („nesso“), den es mithilfe des Zauberspruches auszutreiben galt.
Neben diesem Zauberspruch sind noch zahlreiche weitere Zaubersprüche des frühen und hohen Mittelalters überliefert, die zur Heilung von Krankheiten führen sollten. In diesem Artikel soll es vor allem darum gehen, aufzuzeigen, wo diese Zaubersprüche ihren Ursprung hatten, welches Verständnis von Krankheit und Heilung mit dem Verwenden eines Zauberspruchs verbunden war und wer mit den Zaubersprüchen heilte.

Wenngleich die Christianisierung dazu führte, dass der germanische Glaube den Status eines ‚Aberglaubens‘ erhielt, konnte die Ausbreitung des Christentums dennoch nicht verhindern, dass germanisch-heidnische Vorstellungen, Riten und Kulte weiter existierten. Durch den Wunsch, unerklärlichen Übeln eine Gegenmacht entgegenzusetzen sowie der magischen Weltanschauung und Geisteshaltung vieler Menschen, blieb der Glaube an Dämonen vielfach omnipräsent und koexistierte neben dem sich ausbreitenden christlichen Glauben an die Kraft und Allmacht Gottes. Der Glaube an Dämonen war dabei die Basis für die Vorstellung der Funktionsfähigkeit und Wirkmächtigkeit von Zaubersprüchen und insgesamt dem christlichen Glauben nicht sehr fremd: Sowohl den religiösen als auch den ‚magischen‘ Glauben verband eine Urverwandtschaft, die in der Vorstellung von der Abhängigkeit des Menschen von übernatürlichen Mächten lag. Ebenso wie im christlichen Glauben durch das Gebet zu Gott, wandten sich die Anhänger des heidnischen Glaubens mit Zaubersprüchen an ihre übernatürlichen Mächte. Somit gab es weniger ein Nacheinander von Heidentum und Christentum, sondern vielmehr ein Nebeneinander bzw. ein Ineinander. Das heißt jedoch nicht, dass die christliche Kirche diese Koexistenz tolerierte. Gemäß dem Sendungsauftrag Jesu wurde der Aberglaube/ das Heidentum und vor allem seine Götter bekämpft. Schon im 6./7. Jahrhundert finden sich in irischen Bußbüchern Bestimmungen über den Umgang mit dem heidnischen Glauben, wobei dessen Zauberei als besonders verwerflich herausgestellt wurde. Diese Bekämpfung der magischen Vorstellungen des Heidentums zog sich dann bis ins Hochmittelalter. Auch im 13./14. Jahrhundert kritisierten Beichtspiegel in deutscher Sprache Zauberei und abergläubisches Verhalten, während die Synode von Trier 1227 nachdrücklich betonte, dass Chrisam (in der katholischen Kirchen verwendetes geweihtes Salböl), Taufwasser und Öl unter Verschluss gehalten werden müssten, um magischem Missbrauch durch das Heidentum vorzubeugen. Und das Konzil von Eichstätt schlussfolgerte 1447, dass „ein Greuel vor Gott […] die Zaubereien“ seien, die den Menschen glauben machen würden, dass „durch gewisse Worte […] Krankheiten geheilt“ werden könnten.
Bei aller Kritik und Bekämpfung des ‚magischen‘ Heidentums ist es jedoch erstaunlich, dass es vor allem Geistliche waren, die sich, obwohl sie durch eindringliche Verbote in Synoden und Konzilen gemaßregelt wurden, an der Schaffung und Verbreitung von Zaubersprüchen beteiligten, ja, dass es sogar offizielle kirchliche Benediktionen (Segen) gab, um Krankheiten durch die Macht des Wortes zu heilen. Bis ins 13. Jahrhundert kann die schriftliche Überlieferung von Zauberformeln, die sich vor allem in Handschriften neben Gebeten und geistlichen Schriften befanden, daher auf Geistliche bzw. Menschen mit geistlicher Bildung zurückgeführt werden. Zudem darf für das 13. und 14. Jahrhundert der Höhepunkt der Abfassung von Zauberformeln durch Geistliche angenommen werden.

Der größte Teil der heute überlieferten Zaubersprüche diente der Heilung von Krankheiten auf der Basis eines Glaubens an Dämonen. So glaubten viele Menschen in Früh- und Hochmittelalter, dass unzählige „Krankheitsdämonen“ den Menschen befallen und dadurch Krankheiten auslösen würden. Würmer seien etwa für eine Reihe von Krankheiten des Menschen verantwortlich, der so genannte „Alp“ löse nachts Atem- und Herzbeschwerden aus, während der „Ritten“ beim Befall eines Menschen Fieber auslöse. Da man Krankheiten augenscheinlich eben nicht auf physische oder rationale Gründe zurückführte, versuchten die Menschen mithilfe magischer Worte den „Krankheitsdämonen“ Einhalt zu gebieten. Der größte Teil der Bevölkerung vertraute dabei blind auf die Wirkmächtigkeit von Zaubersprüchen. Die Kunst, mit Zaubersprüchen zu heilen, die auch als ‚Besprechen‘ bezeichnet wurde, wurde auf zwei Arten als erblich verstanden: Auf der einen Seite gab es die Vorstellung, dass Menschen, die an bestimmten Tagen geboren wurden, ausgesprochen geeignet seien für das ‚Besprechen’. So würden beispielweise Kinder, die am 2. Februar (Maria Lichtmess) geboren wurden, ein besonderes Talent beim ‚Besprechen’ zeigen. Auf der anderen Seite wurde die Zauberei mit magischen Formeln insofern vererbt, da Sprüche, die innerhalb einer Familie bestanden und dort streng vertraulich behandelt wurden, an die Nachkommen weitergegeben wurden. Aufgrund höchster Geheimhaltung zögerten viele diese Weitergabe häufig bis zur Sterbestunde hinaus und vollzogen diese erst in den letzten Lebensstunden. Hierbei gab es häufig widersprüchliche Vorschriften, denn während die eine Vorschrift besagte, dass Männer Formeln nur an Söhne und Frauen nur an Töchter weitergeben dürften, betonte eine andere Vorschrift gerade die Wichtigkeit der gegengeschlechtlichen Weitergabe für die zukünftige Wirksamkeit der Sprüche. Wichtig war vor allem, die Kunst des ‚Besprechens‘ nicht an zu viele Personen weiterzugeben, da ein zu breiter, wissender Personenkreis die Kraft der Zaubersprüche mindern würde. Daher gab es nur wenige Personen, die sich auf die Kunst des ‚Besprechens‘ verstanden, die allerdings überregional bekannt waren und das Vertrauen vieler Menschen genossen. Vor allem Hebammen und alten Frauen sowie Schäfern, Kuhhirten, Metzgern, Wirten, Schlossern, Schuhmachern, Bienenzüchtern und Geistlichen, die sich selbst als ‚Braucher‘, ‚Blaser‘, ‚Beter‘ oder ‚Abbeter‘ bezeichneten, wurde dabei eine besondere Beherrschung des ‚Besprechens‘ zugesprochen. Diese Personen, denen ein feiner Sinn, ein starker Wille, ein hervorragender Scharfsinn und vielseitige Lebenserfahrung zuerkannt wurde, hielten häufig Sprechstunden wie berühmte Ärzte ab.

Deutlich zeigt sich also, dass Zaubersprüche im Mittelalter als Heilmittel gegen Krankheiten verstanden und angewendet wurden sowie anerkannt waren. Zaubersprüche galten als sprachlich-gestische Heilmittel, die neben althergebrachten Arzneien, Kräutern und Heilsteinen existierten und darüber hinaus die Wirkmacht dieser sogar übertreffen sollten. Dies zeigt sich auch darin, dass in vielen Medizin- und Arzneibüchern Zaubersprüche direkt neben schulmedizinischen Traktaten oder Rezepten zu finden sind. Zaubersprüche waren also Teil medizinischer Fachliteratur.

Literatur:
Holzmann, Verena: „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin...“. Formen und Typen altdeutscher Zaubersprüche und Segen (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 36), Berlin, Wien u.a. 2001.
Beck, Wolfgang: Die Merseburger Zaubersprüche (Imagines Medii Aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 16), Wiesbaden 2003.
Riecke, Jörg: Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache im Deutschen, Berlin 2004.

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