Sonntag, 20. Dezember 2015

Die Weihnachtsgeschichte auf Mittelhochdeutsch - Das Marienleben des Schweizers Wernher

Die Geburt Jesu dargestellt in einer Schmuckinitiale in einer englischen liturgischen Handschrift (1310-1320)
https://en.wikipedia.org/wiki/Nativity_of_Jesus#/media/File:Nativity_01.jpg

Wohl jedem dürften die Weihnachtsgeschichten, jene im Neuen Testament zu findenden Erzählungen, die die Geburt Jesu von Nazareth schildern, aus dem Alltag, der Schule, dem (Eigen-)Studium oder aber auch aus dem Weihnachtsgottesdienst bekannt sein. Die Weihnachtsgeschichte nach dem Lukasevangelium ist dabei die bekanntere und jene, die traditionell an Weihnachten im christlichen Gottesdienst verlesen wird, während die Weihnachtsgeschichte nach dem Matthäusevangelium den meisten eher unbekannt sein dürfte. In diesem kurz!-Artikel soll aber eine andere Weihnachtsgeschichte im Mittelpunkt stehen, eine Weihnachtsgeschichte auf Mittelhochdeutsch, die Teil eines im 14. Jahrhunderts verfassten Marienlebens ist. Aufgrund der Tatsache, dass sich der Schreiber bei der Fertigstellung seines Marienlebens vor allem auf Apokryphen, nicht in den biblischen Kanon aufgenommene Texte, bzw. Werke stützte, die sich ihrerseits an apokryphen Schriften orientieren (z.B. Vita beatae virginis Mariae et salvatoris rhythmica), bietet es einige Änderungen und Zusätze zu den aus dem Neuen Testament bekannten Weihnachtsgeschichten, denen dieser kurz!-Artikel nachgehen möchte.

Über den Schreiber des Marienlebens selbst ist wenig bekannt. Die einzigen biographischen Angaben erhält der Leser aus dem besagten Marienleben selbst. Diese Informationen beschränken sich dabei auf die namentliche Nennung des Schreibers als „Wernher“. Das in knapp 15.000 mittelhochdeutschen Reimpaarversen verfasste Marienleben entstand vermutlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und ist heute lediglich in einer Handschrift eines schwäbischen Schreibers von 1382 überliefert. Inhaltlich bietet es einen umfassenden und auf Apokryphen zurückgehenden Einblick in das Leben Marias. Da jenes eng mit dem Leben Jesu verbunden ist, verwundert es nicht, dass innerhalb des Marienlebens auch auf die Verkündigung und die Geburt Jesu Bezug genommen wird. 

Die Darstellung der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel im Marienleben zeigt klare Parallelen zur Verkündigungsszene im Lukasevangelium (Lk 1,26-38). Auch hier sendet Gott „sinen engel dar,/ Der was Gabriel genant“ zu Maria, um ihr die bevorstehende und vom Heiligen Geist gewirkte Schwangerschaft zu verkünden. Anders als im Marienleben ist im Evangelium nach Lukas zusätzlich überliefert, dass Gott den Erzengel nach Nazareth sendet, während diese Information in der Version des Schweizers Wernher fehlt. Maria „erschrak und schampte sich,/ Wan si da also haimlich/ Allain an ierm werke sass/ Und och ir tur beschlossen was“. Wenngleich hier im Gegensatz zum Evangelium die Angst Marias erzählerisch breiter ausgestaltet wird, überliefert aber auch das Lukasevangelium (Lk 1,29), die durch die Ankunft des Erzengels Gabriel bei Maria ausgelöste Furcht. Der Erzengel versucht sogleich, Maria die Angst zu nehmen („nút fúrchte dir“) und verkündet ihr die bevorstehende Schwangerschaft: „Du wirst enphahend und gebern/ Ainen sun, […]/ der wirt von dir Jesus genant“. Dem Lukasevangelium folgend (Lk 1,34) ist es Maria, die sich auch im Marienleben des Schweizers Wernher über die Art der Empfängnis erkundigt. Während Maria im Lukasevangelium allerdings nur ausführt, dass sie von keinem Mann wisse, durch den sie schwanger werden könne, erfährt der Leser im Marienleben von einer Art Gelübde Marias. So wolle sie „bliben âne man/ Als ich gelobet Gotte han“ und betont damit zugleich ihre Verwunderung über eine zukünftige Schwangerschaft. Der Erzengel ist es nun, der Maria darauf antwortet, dass der „hailig gaist wirt komen ze dir/ Und des obrosten kraft/ Tuot dich mit gnaden berhaft,/ Und was von dir wirt geborn kun,/ Das wirt hailig, genant des obrosten sun“. Ebenso wie im Evangelium nach Lukas (Lk 1, 35) ist es also der Erzengel Gabriel, der Maria über die bevorstehende unbefleckte Empfängnis durch den Heiligen Geist informiert und Maria damit zu beruhigen versucht. 

Größere Unterschiede zwischen der Weihnachtsgeschichte des Neuen Testaments und der Version des Schweizers Wernher finden sich dann beim ersten Zusammentreffen zwischen der schwangeren Maria und Joseph. Während das Lukasevangelium sich über dieses Zusammentreffen ausschweigt, erfährt man im Marienleben, dass Joseph sich zur Zeit der Verkündigung und auch danach wohl nicht in Nazareth aufgehalten habe. Joseph sei, so das Marienleben, erst nach einiger Zeit wieder zu Maria gekommen und „vant si swanger“. Dieser Zustand löst bei Joseph großes Klagen aus: Sein „hercze [wurde] froedelos“ und „Laid und vorcht hett er mere“. Deshalb betet Joseph zu Gott, dass ihm ob der Schwangerschaft „der tod an kaeme“ und er überlegt kurzzeitig, dass er „welt si (Maria) haimlichen lan/ Und ganczlich von ir schaiden“ (auch: Mt 1,19). Diese Klagen Josephs gehen unter anderem auf das apokryphe Protoevangelium des Jakobus und das ebenfalls apokryphe Pseudo-Matthäusevangelium zurück, derer sich Schweizer Wernher bei der Schilderung dieses Treffens bediente. In jenen wird geschildert, dass Joseph für einen längeren Zeitraum von Nazareth abwesend war, um Marias 'Übersiedlung' nach Bethlehem, seiner Heimatstadt, vorzubereiten. Als Joseph nun nach Nazareth zurückkehrt und dabei die schwangere Maria vorfindet, werden durch das Klagen Josephs seine Zweifel an der Jungfräulichkeit Marias zum Ausdruck gebracht. Maria ist es, die immer wieder ihre Unschuld beteuert. So bittet sie „Got och do zestund/ Das er Josephe taete kund/ Der sache warú maere,/ Das er zwivels enbaere“ und unternimmt zahlreiche Schritte, um die bei Joseph durch die Schwangerschaft ausgelösten Zweifel an ihrer Jungfräulichkeit auszulöschen. Maria lässt sogar mehrere Frauen herbeikommen, die in ihrem Namen beteuern, dass sie „âne schulde was“ und noch immer ein „rainú maget waere“, da „si beruorte nie kain man“. Erst eine Engelsbotschaft – nach dem Matthäusevangelium erhält Joseph diese im Traum (Mt 1, 20) – kann Joseph von seinem Klagen befreien: „Joseph, Davides sun und Gottes knecht,/ Von Marien hast du vernomen recht. […] Wan was du hast an ir gesechen,/ Von dem heiligen gaist ist das beschechen“. Erst jetzt sind bei Joseph alle Zweifel ausgelöscht und er bittet Maria um Verzeihung („umb ir hulde“) für sein zweifelndes Verhalten.

Mit dem Aufruf des Kaisers Augustus zur Volkszählung (Lk 2,1-5) machen sich Maria und Joseph auch im Marienleben von Nazareth auf nach Bethlehem. Maria reitet aufgrund ihrer Schwangerschaft „uf ainen esel“, der von Joseph geführt wird. Zudem führen sie neben dem Esel auch noch einen Ochsen mit auf ihrer Reise nach Bethlehem. Mitten in der Nacht kommen sie vor den Toren der Stadt zu einem Berg, der nahe Bethlehem liegt und eine große Höhle beherbergt. Während im Lukasevangelium die Suche Marias und Josephs nach einer freien Herberge angedeutet wird (Lk 2,7), auf der Maria und Joseph sich befinden, fehlt diese Darstellung im Marienleben vollständig. Am Berg angekommen begegnet Maria und Joseph ein Engel, der sie empfängt und mit Maria „in die húli gieng“. Joseph, im Gefolge von Ochs und Esel, folgt den beiden und stellt die beiden Tiere innerhalb der Höhle an eine Krippe, weil „ain wenig hoewes da was,/ Dar ob sin vich stuond und âs“. Ein weiterer Zusatz ist im Marienleben auszumachen, wenn Joseph, der erkennt, dass die Stunde der Geburt Marias immer näher kommt, Maria verlässt, um „Frowen die man zuo der zit/ Hât gern in allen landen wit“ herbeizuholen. Joseph begibt sich also offensichtlich auf die Suche nach Hebammen, die Maria bei der Geburt beistehen sollen. Weder das Lukas- noch das Matthäusevangelium erwähnen Hebammen oder eine Abreise Josephs von der Höhle.

Geburt Christi von Geertgen tot Sint Jans (1490)
https://en.wikipedia.org/wiki/Nativity_of_Jesus#/media/File:Geertgen_tot_Sint_Jans,_The_Nativity_at_Night,_c_1490.jpg

Die Geburt Jesu findet nun im Marienleben des Schweizers Wernher in Abwesenheit Josephs statt. Kurz nach seiner Abreise sind es Engel, die vom Himmel herabkommen und Maria bei der Geburt ihres Kindes beistehen: So „kamend dar/ Von hymel vil der engel schar/ Und umbstuondent wirdeklich/ Mariam aller gnaden rich“. Während des Gesangs der Engel „Maria ieren sun gebar/ Mit froeden gar ân alles we“. Joseph kehrt erst nach der Geburt Jesu zu Maria zurück und freut sich sehr über die Geburt seines Sohnes, kniet nieder, betet zu Gott und „lopte Got do sunder/ Umb siner gnaden wunder“. Kurze Zeit später treffen auch die von Joseph aufgesuchten Hebammen, Rachel und Salome, in der Höhle ein, die die Jungfräulichkeit Marias nach der Geburt zunächst bezweifeln und Maria deshalb 'begreifen' wollen, wodurch Salomes Hand und Arm lahm werden. Letztendlich beglaubigen beide jedoch dadurch, dass Arm und Hand durch die Kraft des Jesuskindes wieder geheilt werden, die Unversehrtheit von Frau und Kind nachträglich.

Nach der Geburt wickelt Maria Jesus und legt ihn „in die krippe […]/ Fuer den esel und das rind:/ Du baide erkantent wol das kint/ Und bugend sich uf irú knie“. Die Krippe findet dabei auch im Lukasevangelium Erwähnung (Lk 2,7;2,12;2,16), während der 'Höhlenstall', die Tiere an der Krippe, die Abwesenheit Josephs während der Geburt sowie die Hebammen und die besorgte Mutter Maria Elemente sind, die sich so weder im Lukas- noch im Matthäusevangelium finden lassen und unter anderem den besagten apokryphen Schriften entnommen sind. 

Auch die Begegnung des Engels mit den Hirten auf den Feldern (Lk 2, 8-20) wird im Marienleben, wenngleich es sich wortwörtlich nicht um Hirten, sondern um „frume lúte guote“ handelt, dargestellt. Aufgrund des Aufrufs Kaiser Augustus' sind vor allem die Menschen mit Tieren wegen der großen Enge in der Stadt vor die Mauern gezogen, um dort mit den Tieren zu verweilen. In der Nacht der Geburt Jesu erscheint ihnen am Himmel ein „michel schoenes licht […]/ Da mit ain engel here./ Des erschrakend sú vil sere“. Der Engel kann die ängstlichen Menschen auf den Feldern jedoch beruhigen und verkündet ihnen die frohe Botschaft: 

Lant úwer fúrchten sin,/ Niement tuot úch kain pin!/ Ich tuon úch gross froed kunt,/ Wan úch ist hút ze dirre stunt/ Der welte behalter geborn/ Ze Bethlehem in der stat Davides userkorn. […] Ir werdent vinden das kindelin/ In tuochelú gewunden sa/ Und ligent in der krippe da/

Nun machen sich auch die Hirten des Marienlebens auf den Weg zum Jesuskind in die Höhle, um so der Aufforderung des Engels nachzukommen, während zudem berichtet wird, dass in der Nacht noch zahlreiche Wunder geschehen seien.

Eine weitere Stelle im Marienleben des Schweizer Wernher ist besonders und so nicht in den Evangelien des Neuen Testaments zu finden, weswegen sie hier kurz Erwähnung finden soll: Der Schreiber des Marienlebens berichtet nicht nur davon, dass Maria das Kind kurz nach der Geburt in „aermú klainú tuochelin“ wickelt, sondern auch davon, dass zwei „siner windelin“ sogar noch heute in Aachen („ze Âche“) bestaunt werden könnten. Um diesen Zustand noch weiter zu beglaubigen, ist es der Schreiber selbst, der bekundet, dass er nicht nur von den zwei Windeln in Aachen gehört, sondern diese selbst auch gesehen habe. Noch heute werden die Windeln Jesu als Teil der vier großen Aachener Heiligtümer alle sieben Jahre in der Aachener Heiligtumsfahrt gezeigt.

Die Windeln Jesu als Teil der vier großen Aachener Heiligtümer
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6e/AC_Dom_Heiligtum_Windel_Jesu1.jpg

Auch zum Ende des Teils zur Geburt Jesu meldet sich noch einmal der Schreiber selbst zu Wort, der eindrücklich die Wichtigkeit der Geburt und die damit verbundene traditionelle Feier derselben betont: „Und eweklich dú welt begat/ In der hailigen messe,/ Das man sin nút vergesse; Als man da wol hoeret also: 'Gloria in excelsis Deo/ Et in terra pax hominibus!'


Zum Weiterlesen: 
- Das Marienleben des Schweizers Wernher aus der Heidelberger Handschrift, hrsg. von Max Päpke und Arthur Hübner, Berlin 1920 (Deutsche Texte des Mittelalters 27).
- Masser, Achim: Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen Epik des deutschen Mittelalters, Köln 1967.
- Päpke, Max: Das Marienleben des Schweizers Wernher, Berlin 1913.

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