Sonntag, 12. März 2017

Zwischen Leben und Sterben – die Kolonie Jamestown

Im Jahr 1607 wurde im heutigen US-Bundestaat Virginia die erste dauerhafte englische Kolonie Jamestown gegründet. In der Frühphase wurde das Leben in der Siedlung aber vor allem durch Misserfolge, Konflikte, Hunger, Krankheiten und Tod geprägt. Der vollkommene Niedergang von Jamestown schien nur eine Frage der Zeit zu sein. In diesem Artikel sollen sowohl die Gründung und Entwicklung der Kolonie als auch die Probleme, mit denen die ersten Siedler konfrontiert waren, beschrieben werden. Dabei wird es auch um einen 2013 gemachten Fund menschlicher Knochen auf dem damaligen Gebiet gehen, der die Annahme zulässt, dass es vor allem im sogenannten Hungerwinter von 1609/10 unter den Bewohnern zu Kannibalismus gekommen sein könnte.


Unter der Herrschaft von Elisabeth I. (1533-1603), die seit 1558 Königin von England war, entwickelte sich die Idee, den Versuch einer Besiedelung des amerikanischen Kontinents zu wagen. Ziele dieser Mission waren unter anderem eine politische Schwächung Spaniens durch den Gewinn neuer Gebiete und Absatzmärkte, ein Anwachsen des englischen Reichtums durch die Ressourcen, die man in den zu gründenden Kolonien zu finden erwartete und schließlich die Christianisierung der amerikanischen Ureinwohner. Die in den 1570er Jahren unternommenen Versuche der Besiedelung scheiterten jedoch allesamt, mal durch finanzielle Schwierigkeiten, mal durch Schiffsunglücke auf dem Weg nach Nordamerika. Zwar gelang es den Engländern 1585 unter der Leitung des Seefahrers Sir Walter Raleigh (1552/54-1618) erstmals eine Kolonie auf Roanoke Island an der Küste des heutigen US-Bundesstaates North Carolina zu gründen, diese konnte jedoch nur ein Jahr bestehen. Ein zweiter Versuch der Besiedelung der gleichen Insel zwei Jahre später scheiterte ebenso und gibt bis heute Anlass zum Rätseln: 1590 waren sämtliche drei Jahre zuvor zurückgelassenen Siedler ohne jede Spur verschwunden.

Schließlich sollte es bis 1606 dauern, dass die Gründung von englischen Kolonien unter Elisabeths Nachfolger König Jakob I. (1566-1627) mit neuer Motivation und umso entschlossener betrieben wurde. Es wurden zwei Gesellschaften gegründet – die Plymouth Company und die Virginia Company of London – unter denen die nordamerikanische Küste nach Breitengraden aufgeteilt wurde und die das Recht erhielten, dort zu siedeln. Die Virginia Company of London entsandte im April 1607 drei Schiffe, auf denen sich insgesamt 104 Männer – Frauen und Kinder sollten später nachkommen – befanden, um einen neuen Versuch der Koloniegründung zu unternehmen. Die ausgewählten Männer entstammten vor allem dem niedrigen Adel oder dem Bürgertum und waren zumeist zweitgeborene Söhne, die sich ein besseres Leben in der neuen Welt erhofften. Auch Handwerker und einfache Arbeiter befanden sich unter den Ausgewählten. Zudem sollen zahlreiche Deutsche unter den ersten Siedlern gewesen sein, nachgewiesen ist beispielsweise der aus Breslau stammende Arzt und Botaniker Johannes Fleischer. Nach etwa einmonatiger Überfahrt erreichten die Schiffe die nordamerikanische Küste und die Chesapeake Bay, die größte Flussmündung der USA. Von hier aus entschlossen sich die Siedler, den James River zu erkunden, um einen geeigneten Platz für die Gründung der Kolonie zu finden. Dabei hatte die Virginia Company of London die Anordnung erlassen, dass die Ansiedlung auf einem bislang unbewohnten Stück Land erfolgen sollte, um Überfälle und Konflikte mit den Ureinwohnern zu vermeiden. Am 14. Mai 1607 entschieden sich die Männer für die im James River liegende Insel Jamestown Island und gründeten Jamestown. Nach dem Entladen der Schiffe hatte die Sicherung des Geländes, das von den Siedlern nach König Jakob I. (James) zunächst James Fort, dann Jamestown genannt wurde, oberste Priorität. Innerhalb von 19 Tagen wurde ein Fort errichtet, das zusätzlich von einem dreieckigen Wall umgeben und mit Kanonen gesichert wurde, um den Schutz der Kolonie zu gewährleisten. 

Jamestown (Mitte) auf einer Karte, die der spanische Botschafter am englischen Königshof an Philipp III. schickte. Es handelt sich hierbei um die früheste zeitgenössische Darstellung des Forts von Jamestown.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AZuniga_map.jpg

Weitere Zielsetzungen in der Folgezeit waren die Besitznahme von möglichst viel Land für die englische Krone, die Suche nach Gold und Silber sowie weiteren Reichtümern und der baldige Export von Gütern nach England. All diese Ziele konnten zunächst jedoch nicht erreicht werden, da die Siedler bereits im Sommer 1607 mit den akuten Problemen vor Ort konfrontiert wurden. Dazu gehörten nicht nur immer wieder Kämpfe und Auseinandersetzungen mit Mitgliedern der Powhatan-Konföderation, einem Zusammenschluss aus 30 Stämmen, sondern hauptsächlich die schon bald einsetzende Nahrungsmittelknappheit und das Fehlen von sauberem Trinkwasser. Bereits nach sechs Wochen hatten die Kolonisten erste Todesopfer zu beklagen und nach nur wenigen Monaten mussten sie feststellen, dass sich der vielerorts sumpfige Boden der Insel nicht zum Ackerbau eignete und sich kaum noch Tiere zum Jagen oder Früchte und Pflanzen zum Sammeln fanden. Häufig tranken sie zudem das salzige Wasser des James Rivers oder verdrecktes Wasser aus provisorisch angelegten Brunnen. Die schnelle Ausbreitung von Krankheiten war die Folge. Von den 104 Männern, die die Insel erreicht hatten, lebten im September nur noch knapp die Hälfte und nach dem Winter 1607/08 war die Zahl der Überlebenden auf 38 gesunken. Johannes Fleischer starb wohl im Sommer 1608. In dieser schwierigen Zeit übernahm John Smith (1580-1631), ein englischer Söldner, die Leitung der Kolonie und ließ sich zum neuen Führer der verbleibenden Siedler wählen. Ihm gelang es, die Lebensmittelversorgung der Bewohner vorerst zu sichern, indem er auf Handelsmissionen in der Kolonie vorhandene Gegenstände mit den Ureinwohnern gegen Lebensmittel tauschte. In seinen Lebenserinnerungen berichtet er, dass die Kolonie während seiner Abwesenheit jedes Mal dem Untergang nahe gewesen sei: „[…] all sick, the rest some lame, some bruised – all unable to do anything but complain, […] many dead, the harvest rotting and nothing done.

John Smith, Stich aus dem 18. Jahrhundert, nach Simon de Passe.

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Bei einer Explosion von Schwarzpulver erlitt Smith 1609 schwere Verletzungen, die im September seine Rückkehr nach England erforderlich machten. Mit seinem Weggang endete eine Phase der relativen Stabilität in Jamestown. Die Führung der Kolonie übernahm nun George Percy (1580-1627), in dessen Amtszeit im Winter 1609/10 die sogenannte Starving Time fiel, in der der Hunger und Krankheiten erneut zunahmen. Zu diesem Zeitpunkt lebten in der Kolonie circa 200 Menschen, nachdem im Vorfeld weitere Schiffe angekommen waren, die nun auch Frauen und Kinder gebracht hatten. Am Ende des Winters sollte es nur noch gut 60 Überlebende geben. In einem Brief aus dem Jahr 1625 beschreibt Percy diese Hungerzeit im Rückblick folgendermaßen: “Haveinge fedd upon our horses and other beastes as longe as they Lasted, we weare gladd to make shifte with vermin as doggs Catts, Ratts and myce…as to eate Bootes shoes or any other leather. […] And now famin beginneinge to Looke gastely and pale in every face, thatt notheinge was Spared to mainteyne Lyfe and to doe those things which seame incredible, as to digge upp deade corpes outt of graves and to eate them. And some have Licked upp the Bloode which hathe fallen from their weake fellowes.Lange Zeit galt diese Beschreibung, die offenbar vorgekommene Fälle von Kannibalismus in Zeiten des größten Hungers thematisiert, als Übertreibung Percys, der damit – so vermutete man – die Leistung des Überlebens in Jamestown umso höher ansetzen wollte. Im Jahr 2013 fanden Archäologen der Smithsonian Institution jedoch bei Ausgrabungen die Schädel- und Schienbeinknochen eines etwa 14-jährigen Mädchens. Anhand zahlreicher Untersuchungen konnten Werkzeug- und Axtspuren an den Knochen festgestellt werden, die darauf hindeuten, dass das Fleisch und das Gehirn des Mädchens nach ihrem Tod entfernt wurden, um womöglich in letzter Verzweiflung als Nahrung verwendet zu werden. Douglas Owsley, Mitarbeiter der forensischen Anthropologie des Smithsonian, kommt zu dem Schluss: „Given these bones in a trash pit, all cut and chopped up, it's clear that this body was dismembered for consumption.”

Schädel von „Jane of Jamestown“ mit den sichtbaren Verletzungsspuren

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Nach Ende des grausamen Winters beschlossen die 60 verbleibenden Siedler nach England zurückzukehren und die Kolonie aufzugeben. Im Mai 1610 trafen jedoch zwei Schiffe aus England ein, die reichlich Nachschub und Vorräte brachten. Auf einem der Schiffe befand sich zudem der Landwirt John Rolfe, der schließlich den Tabakanbau in der Kolonie einführte. Tabak wurde schon bald zum erfolgreichsten Exportgut der Siedler, führte zu einer Art Waffenstillstand mit den Ureinwohnern und sicherte Jamestown und seinen Bewohnern somit erstmals dauerhaft das Überleben.

Nachdem das Zentrum der Kolonie 1699 nach Williamsburg verlegt worden war, geriet die Geschichte des Ortes vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in Vergessenheit. Seit 1934 ist Jamestown ein Teil des Colonial National Historical Park. Auf dem ehemaligen Gebiet des Forts finden seit 1994 archäologische Ausgrabungen statt und die Grundmauern können mittlerweile ebenso besichtigt werden wie Nachbauten der historischen Schiffe. 

Jamestown heute mit John Smith-Denkmal

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Zum Weiterlesen:
Doherty, Kieran: Sea Venture. Shipwreck, Survival, and the Salvation of Jamestown, New York 2008.
Kelso, William M.: Jamestown. The Buried Truth, Charlottesville u. London 2006.
Kupperman, Karen Odahl: The Jamestown Project, Cambridge 2008.
Stromberg, Joseph: Starving Settlers in Jamestown Colony Resorted to Cannibalism, April 2013.
http://www.smithsonianmag.com/history/starving-settlers-in-jamestown-colony-resorted-to-cannibalism-46000815/

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