Sonntag, 7. Mai 2017

Justina Siegemund – Eine Hebamme und ihr Lehrbuch

Auch wenn es sich bei dem Beruf der Wehe-Mutter oder Hebamme um einen der ältesten Frauenberufe überhaupt handelt, sind doch für die Frühe Neuzeit nur wenige Hebammen namentlich bekannt. Eine Ausnahme stellt Justina Siegemund dar, der es nicht nur gelang, zur Hofhebamme am kurfürstlichen Hof von Brandenburg aufzusteigen, sondern auch das 1690 veröffentlichte erste deutsche Lehrbuch für Hebammen zu verfassen. In unserem neuesten Artikel soll das Leben dieser außergewöhnlichen Frau sowie ihr Werk näher vorgestellt werden.

Frontispiz von 1752.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d0/Justina_Siegmundin1.jpg

Justina oder Justine Dittrich wurde am 26. Dezember 1636 in Jauer (polnisch Jawor), einem kleinen Dorf in Schlesien, geboren. Sie war die Tochter des im Dorf Rohnstock (Roztoka) tätigen evangelischen Pfarrers Elias Dittrich, der ihr Lesen und Schreiben beibrachte – eine keinesfalls gewöhnliche Bildung für Mädchen im 17. Jahrhundert. Im Jahr 1655 heiratete sie den Amtsschreiber Christian Siegemund. Die Ehe der beiden blieb kinderlos, was eine Besonderheit im weiteren Lebensweg Justina Siegemunds darstellt, da Hebammen im 17. Jahrhundert fast ausschließlich selbst Kinder zur Welt gebracht hatten und somit ihr Wissen auch aus eigenen Erfahrungen schöpfen konnten. Nach eigener Aussage war eine Art Scheinschwangerschaft der Grund dafür, dass sie letztlich den Wunsch verspürte, dem Tätigkeitsbereich der Hebamme nachzugehen. Im Alter von 21 Jahren war sie von vier Wehe-Müttern für schwanger gehalten und nach 40 Wochen zur Entbindung gedrängt worden. Durch dieses persönliche einschneidende Erlebnis und das Entsetzen über die Unwissenheit der sie behandelnden Frauen sei bei ihr der Wunsch entstanden, sich selbstständig Kenntnisse auf dem Gebiet der Geburtshilfe anzueignen, um anderen Frauen helfen zu können. Von da an bildete sie sich durch die Lektüre entsprechender, aber nicht genau benannter, Schriften zur Geburtshilfe und Gynäkologie weiter. Nach zwei Jahren der Aneignung theoretischen Wissens soll sie von einer Hebamme zu einer besonders schweren Geburt hinzu gerufen worden sein, bei der sie ihre Kenntnisse erstmals in der Praxis anwenden konnte. Es ist davon auszugehen, dass sich in der Folge zahlreiche solcher Situationen ergaben und Justina Siegemund sich mehr und mehr als anerkannte Hebamme etablieren konnte, die aber zunächst unentgeltlich arbeitete. 1670 nennen Quellen sie dann als Stadt-Wehe-Mutter von Liegnitz (heute Legnica in Polen). Doch bereits in dieser Position musste sie sich mit Kritik und Vorwürfen männlicher Autoritäten auseinandersetzen: Der Liegnitzer Stadtarzt Dr. Martin Kerger (1622–1691) – gleichzeitig ihr Konkurrent – warf ihr 1680 den Gebrauch gewalttätiger Praktiken im Geburtsvorgang und den Einsatz geburtsfördernder Mittel vor. Das Gerichtsverfahren gestaltete sich äußerst kompliziert und langwierig, da Kerger sich als Wahrer der Hebammenordnung stilisierte, während Justina Siegemund zahlreiche Zeugen, darunter von ihr betreute Frauen, deren Ehemänner und andere Hebammen, vorbringen konnte, die sie entlasteten. In dieser schwierigen Situation berief schließlich der sogenannte Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688) die mittlerweile weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Hebamme an seinen Hof und ernannte Justina Siegemund dort zur Chur-Brandenburgischen Hof-Wehemutter. Dadurch konnte sie sich dem weiteren Verlauf des Verfahrens entziehen. Die Tatsache, dass Friedrich Wilhelm ihr das Vertrauen entgegenbrachte, bei der Entbindung von Nachkommen der Dynastie der Hohenzollern behilflich zu sein, zeugt von ihrem damaligen Ansehen und ihrer Kompetenz. Nachweislich half Justina Siegemund der Tochter des Großen Kurfürsten, Herzogin Marie Amalie von Sachsen-Zeitz (1670-1739), bei vier Entbindungen und sie war auch die Hebamme bei der Geburt von Friedrich August II. (1696-1763), Sohn von Kurfürstin Christiane Eberhardine (1671-1727) und August dem Starken (1670-1633). Justina Siegemund ging ihrer Tätigkeit im Laufe der Jahre an mehreren Höfen nach, an die die Hohenzollern sie vermittelt hatten und gelangte so unter anderem bis nach Den Haag.

In der Folge entschied sie sich dazu, eben jenes gesammelte Wissen auch in schriftlicher Form festzuhalten und es somit anderen nicht akademisch gebildeten Hebammen und interessierten Lesern zur Verfügung zu stellen. In der späteren Vorrede beschrieb die sehr gläubige Frau ihre Motivation folgendermaßen: „daß mich nichts anders/ auſſer dem vorgedachten Befehl/ und meinem Beruff/ zu dieſem Druck gebracht/ als die Begierde meinem Nechſten zu dienen/ in der Zuverſicht/ daß vielleicht die itzund Bedencken tragen mich muͤndlich zu fragen/ durch dieſe Schrifft Unterricht werden annehmen/ mit mehrerm Grund in vorfallenden ſchwehren Geburten/ nuͤtzliche Dienſte zu leiſten“. Schon früher hatte sich Justina Siegemund Notizen zu den von ihr begleiteten Geburten und besonders komplizierten Fällen gemacht. Diese fasste sie nun zusammen, ergänzte sie durch Erklärungen und brachte sie für ihr Buch in die Form eines Lehrgesprächs zwischen zwei Wehe-Müttern. Jedoch war es für sie in zweifacher Hinsicht schwierig, ein Buch zu veröffentlichen: Zum einen musste sie sich als weibliche Autorin auf dem männlich dominierten Buchmarkt ihrer Zeit behaupten und ihre Schrift auf eigene Kosten publizieren, zum anderen entstand ihr Werk zu einem Zeitpunkt, an dem Ärzte im Zuge von Medizinalreformen vermehrt versuchten, die bis dahin weiblich geprägte Geburtshilfe zu kontrollieren und die Hebammen in ihren Befugnissen einzuschränken. Aus diesem Grund war Justina Siegemund gezwungen, ihre Ausführungen, die ja medizinisches Wissen enthielten, zunächst der medizinischen Fakultät an der Brandenburgischen Universität in Frankfurt an der Oder vorzulegen. Nachdem sie 1689 die Erlaubnis erhalten hatte, ihr Werk zu veröffentlichen, erschien es ein Jahr später erstmals unter dem Titel „Die Chur-Brandenburgische Hoff-Wehe-Mutter/ Das ist: Ein höchst-nöthiger Unterricht/ Von schweren und unrecht-stehenden Geburten. Der Untertitel lautete „In einem Gespräch vorgestellet/ Wie nehmlich/ durch Göttlichen Beystand eine wohl-unterrichtete und geübte Wehe-Mutter/ Mit Verstand und geschickter Hand/ dergleichen verhüten/ oder wanns Noth ist/ das Kind wenden könne/ Durch vieler Jahre Ubung/ selbst erfahren und wahr befunden.“

Titelblatt des Hebammen-Lehrbuches der Justina Siegemund, Druck von 1723 (Erstausgabe 1690), Foto H.-P.Haack.
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Der Vorrede ihres Buches, in der sie auch ihren Lebensweg und ihre eigene Kinderlosigkeit reflektiert, ist außerdem zu entnehmen, dass sie ihr Werk aus folgendem Grund verfasste: „Solchergeſtalt iſt die-ſes Buch/ das lange/ wie in einer Geburt geſtecket/ ans Liecht gekommen/ und ſol/ weil ich keine Kinder zur Welt gebohren/ das ſeyn/ was ich der Welt hinterlaſſe.“ In neun Kapiteln widmete sie sich – immer wieder unterbrochen durch autobiographische Passagen – unter anderem dem Aufbau des weiblichen Uterus‘, möglichen Lagen des Kindes, bei der Geburt nützlichen Hilfs- und Hausmitteln, aber auch Totgeburten und sie ging dabei auch auf die Grenzen ihres Könnens ein.

Das hauptsächlich für Hebammen konzipierte Lehrbuch, das neben Informationen zur praktischen Geburtshilfe auch enorme Kenntnisse über Anatomie und Gynäkologie offenbart und dessen Kupferstiche der Anschauung dienten, erwies sich über Jahre als äußerst erfolgreich. Obwohl es von Medizinern – darunter der Leipziger Professor für Anatomie und Chirurgie Andreas Petermann (1649-1703) – aufgrund seines Ursprungs und der Vermittlung von nicht gelehrtem Wissen teilweise scharf kritisiert wurde und der Vorwurf der „Geschwätzigkeit“ gegenüber der Verfasserin im Raum stand, erschien es in zahlreichen Auflagen. Diese weisen jedoch teilweise enorme Eingriffe in den Text auf und deuten den Prozess einer Verwissenschaftlichung an. Auflagen können unter anderem für die Jahre 1708, 1715 sowie 1723/24, 1741, 1752 und 1756 nachgewiesen werden. Auch eine Übertragung ins Niederländische fand statt.

Gedoppelter Handgriff, Kupferstich aus der Auflage von 1723.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/35/1690_Handgriff_der_Justine_Siegemundin.jpg

Aus medizinischer Perspektive bleiben vor allem zwei ‚Erfindungen‘ mit dem Namen Justina Siegemund verbunden: Zum einen der sogenannte Gedoppelte Handgriff, mit dem sie Kinder, die sich in geburtsunmöglichen Positionen befanden, in die Fußlage drehen konnte. Hierzu führte sie ihre rechte Hand und mit Hilfe eines Stöckchens zwei Bänder in die Gebärmutter der Frau ein. Die Bänder schlang sie dann um die Beine des Kindes. Anschließend drehte sie mit ihrer rechten Hand den Oberkörper des Kindes, während die linke Hand der Hebamme von außen an den Bändern ziehen sollte, um somit die Füße des Kindes zum Gebärmutterausgang zu bewegen. Zum anderen hinterließ Justina Siegemund die Skizze eines Geburtsstuhls, der sich in ein Bett umbauen ließ.

Nur wenige Hebammen gingen in der Frühen Neuzeit so weit, ihr Wissen in Lehrbüchern festzuhalten oder verfügten über die nötigen Fähigkeiten, ihre Kenntnisse schriftlich zu fixieren. Neben Justina Siegemund können hier die Französinnen Marie-Louise Bourgeois (1536-1636) und Marie Anne Victorine Boivin (1773-1841) sowie Charlotte Heidenreich von Siebold (1788-1859) genannt werden, die 1815 gar die Ehrendoktorwürde der Entbindungskunst der Universität Gießen erhielt. Unbekannt bleiben die Namen derjenigen Hebammen, die ihre gesammelten Kenntnisse Ärzten mitteilten, die dann ohne Angaben ihrer Quellen Abhandlungen über die Geburtshilfe verfassten.

Justina Siegemund starb am 10. November 1705 im Alter von 68 Jahren in Berlin. Sie soll im Laufe ihres Lebens 6.199 Kinder auf die Welt geholt haben, von denen 20 fürstlichen Familien entstammten.

Zum Weiterlesen:
Siegemund, Justine: Königliche Preußische und Chur-Brandenburgische Hof-Wehe-Mutter. Cölln (Spree), 1690. Online unter:
Specht, Susanne u. a.: Bedeutende Hebammen in der Geschichte, in: Marita Metz-Becker (Hg.): Hebammenkunst gestern und heute. Zur Kultur des Gebärens durch drei Jahrhunderte, Marburg 1999, S. 9-20.
Pulz, Waltraud: «Nicht alles nach der Gelahrten Sinn geschrieben» – Das Hebammenanleitungsbuch von Justina Siegemund. Zur Rekonstruktion geburtshilflichen Überlieferungswissens frühneuzeitlicher Hebammen und seiner Bedeutung bei der Herausbildung der modernen Geburtshilfe, München 1994.
Wilmanns, Juliane C.: Art. Siegemundin, Sigmund(in) Justine, in: Wolfgang U. Eckart / Christoph Gradmann (Hgg.): Ärzte Lexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, 3. Aufl., Berlin 2006, S. 303.

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